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Taxi Times DACH - 1. Quartal 2022

POLITIK ZWÖLF EURO AB

POLITIK ZWÖLF EURO AB 1. OKTOBER – ODER DOCH SPÄTER? Bundeskanzler Olaf Scholz wird sein Wahlversprechen einlösen und den gesetzlichen Mindestlohn auf zwölf Euro erhöhen. Der geplante Zeitpunkt dürfte dem Taxigewerbe Probleme bereiten. Ende Januar legte die Bundesregierung einen Gesetzentwurf zur Anhebung des gesetzlichen Mindestlohns auf zwölf Euro ab 1. Oktober 2022 vor. Gleichzeitig ist auch eine Anpassung der geringfügigen Beschäftigung geplant. Beide Reformentwürfe befinden sich seitdem in der Anhörungsphase, an der sich auch der Bundesverband Taxi- und Mietwagen (BVTM) beteiligt hat. Beide Reformen werden sich „unmittelbar und massiv auf unser Gewerbe auswirken“, ist sich der Taxiverband sicher. Er verweist auf die Besonderheit der Branche, wonach eine Mindestlohnvergütung auch während der Bereitstellungs-/Standzeiten geleistet werden muss. In Kombination mit der fortdauernden Covid-19-Krise stelle die sprunghafte Erhöhung des Mindestlohns das Gewerbe vor eine momentan nicht leistbare Herausforderung. FEHLER IM SYSTEM Dass bei einer Stundenlohn-Erhöhung von aktuell 9,82 Euro auf bald zwölf Euro kein einziger der über 800 bundesweiten Taxitarife beibehalten werden kann, liegt klar auf der Hand. Es ist die unrühmliche Konsequenz aus der Tatsache, dass Taxitarife auf Einschätzung von Gutachten berechnet werden. Diese Gutachten wiederum legen für die üblichen fünfzig bis sechzig Prozent Lohnkosten genau den Mindestlohn als Berechnungsgrundlage fest. Ein fataler Fehler im System, der die Taxiunternehmer unter das Joch stellt, (fast immer) nur den Mindestlohn bezahlen zu können, und der nun die Konsequenz hat, dass bei nahezu allen 800 Genehmigungsbehörden in Deutschland Anträge auf Tariferhöhungen gestellt werden. Wer das Tempo kennt, mit dem solche Anträge durch die kommunalen Instanzen laufen, ahnt bereits, dass es sehr eng mit den notwendigen Tarifanpassungen wird. Sicherlich gibt es engagierte Verwaltungen, die notwendige Tarifanpassungen tatsächlich in nur sechs Monaten durchpeitschen können und wollen, sodass die dortigen Unternehmen noch auf eine halbwegs zeitgerechte Tarifanpassung hoffen dürfen. In der Regel dauert dieser Verwaltungsakt aber minimal zehn Monate oder auch noch viel länger. Selbst wenn also alle Beteiligten engagiert dabei sind, mit den üblichen Anhörungen vor und nach solch einem Beschluss geht da schnell auch einiges mehr als ein Jahr ins Land, bevor die notwendigen Einnahmen den Lohnausgaben angepasst werden können. All diese Bedenken hat auch der BVTM in seiner Stellungnahme geäußert. Weil Taxitarife und Krankenkassenverträge „nicht in der gleichen Geschwindigkeit verhandel- und anpassbar sind“, empfiehlt der Taxiverband daher eine Fristverschiebung vom Oktober 2022 auf April 2023. Diese könne auch branchenbezogen vorgenommen werden. TEILFINANZIERUNG BEIM TAXI Neben dem zeitlichen Aufschub regt der Bundesverband auch eine öffentliche Teilfinanzierung des Taxis an. Was damit gemeint ist, erläutert BVTM-Geschäftsführer Michael Oppermann gegenüber Taxi Times: „Im Zuge der PBefG-Novelle wurde im Regionalisierungsmittelgesetz klargestellt, dass Taxis Teil des ÖPNV sind. Das Regionalisierungsmittelgesetz ist ein Geldverteilungsgesetz, das Bundesmittel an die Länder gibt, damit die angemessenen ÖPNV und Infrastruktur hinstellen. Wo sich das Taxi aus sich heraus nicht trägt, ist es also mehr als angemessen, eine entsprechende Finanzierung bereitzustellen. Bislang gibt es dafür noch keine Blaupause, aber wir werden im ersten Halbjahr Vorschläge dazu vorstellen. Denkbar sind beispielsweise Zuschüsse für unwirtschaftliche Bereitschaftszeiten oder eine Subventionierung des Tarifs. Das Taxi ist ÖPNV und muss deshalb auch an der ÖPNV-Finanzierung partizipieren.“ Laut BVTM hätte die Bundesregierung hier also ein starkes und verlässliches Instrument zur Hand, die entsprechenden Vo raussetzungen zu schaffen, die eine Erwirtschaftung des Mindestlohns auch ermöglichen. jh, rw FOTOS: Pxabay, Taxi Times 18 1. QUARTAL 2022 TAXI

POLITIK ZWEI SEITEN DERSELBEN MEDAILLE Waren die Proteste der Bundesverbände gegen die geplante, dann aber wieder zurückgezogene Dokumentationspflicht der Arbeitszeiten wirklich im Sinne der redlich arbeitenden Taxibetriebe? EIN KOMMENTAR VON REMMER WITTE FOTO: Witte In ersten Entwürfen der Gesetzesvorlage zum neuen Mindestlohn sollten Arbeitgeber dazu verpflichtet werden, den Beginn der täglichen Arbeitszeit „jeweils unmittelbar bei Arbeitsaufnahme“ sowie Ende und Dauer der täglichen Arbeitszeit jeweils am Tag der Arbeitsleistung elektronisch und „manipulationssicher“ aufzuzeichnen. Diese geplante Regelung bezeichneten auch die Taxi- und Mietwagenverbände als „praxis- und realitätsfremd“ und begrüßten die Streichung. Dies gelte insbesondere, da kleine und mittelständische Unternehmen durch die Anschaffung von Zeiterfassungssystemen übermäßig belastet werden könnten. Reizwort der Gesetzesvorlage war sicherlich der Begriff „manipulationssicher“, der die Notwendigkeit neuer Investitionen versprach. Insofern ist nachvollziehbar, dass viele Arbeitgeberverbände sofort Sturm gegen diese Formulierung liefen. Aber ansonsten? Ansonsten sollte die im Gesetz geforderte Dokumentation der Arbeitszeit heute eigentlich Standard in jedem (Taxi-) Betrieb sein, vor allem dann, wenn dort unregelmäßig zu wechselnden Zeiten gearbeitet wird. Und jeder Verband sollte schon im Interesse der Wettbewerbsgerechtigkeit seiner Mitglieder solche Standards unterstützen und sie stattdessen nicht als „praxis und realitätsfremd“ brandmarken. Eine Mindestlohnregelung greift überall dort gravierend in den Wettbewerb ein, wo nicht sichergestellt ist, dass die so zu bezahlende Arbeitsstunde auch überall gleichmäßig sechzig Minuten und nicht mehr hat. Und dazu ist es im Niedriglohnsegment wohl zwingend notwendig, dass zusätzlich zu Arbeitsbeginn und Ende auch die zwischenzeitlichen Pausen ebenfalls unveränderlich dokumentiert werden. Derzeitig besagt die gesetzliche Regelung, dass zwar Beginn und Ende der Arbeitszeit, nicht aber die Pausen zeitlich und nicht nur als Summe dokumentiert werden müssen. Das spricht dem Sinn eines Mindestlohngesetzes eigentlich Hohn und scheint somit ohne gleichzeitige Zeitdokumentationspflicht „praxis- und realitätsfremd“. Aktuell ist im Rahmen dieser Regelung eine Arbeitszeitdokumentation nach dem Schema „Datum, Beginn sechs Uhr, Ende achtzehn Uhr, Arbeitszeit sechs Stunden, Pause sechs Stunden“ absolut legal. DIE SOFTWARE KANN ES SCHON Auch die vermeintlich hohen Folgekosten solcher Dokumentationen halten einer Realitätsüberprüfung in Zeiten der Digitalisierung kaum stand. Vielmehr sind solche Lösungen für die meisten Taxler schon jetzt im Rahmen ihrer aktuellen Software verfügbar und können – bis auf die sicherlich nur mit hohem Aufwand erfüllbare Manipulationssicherheit – sämtlichen Anforderungen des zunächst avisierten Gesetzesentwurfs genügen. Mit der Verfügbarkeit der hier beispielhaft abgebildeten Daten als Basis jeder Lohnabrechnung wäre neben der Lohngerechtigkeit gegenüber den Arbeitnehmer*innen auch ein Riesenschritt zur Wettbewerbsgerechtigkeit innerhalb des Taxi- und Mietwagengewerbes getan. Der Aufwand, solch komplexe Datenreihen regelmäßig einer ggf. „unternehmerisch erwünschten Alternativrealität“ anzupassen, wäre enorm. In dem Augenblick, in dem der Lohn über eine Mindestlohnregelung zumindest nach unten fixiert ist, muss gleichzeitig auch definiert werden, welche Art der Arbeitszeitaufzeichnung als Basis für die Lohnzahlung genutzt werden soll. Um gerade die Zukunft derjenigen Mitglieder zu sichern, die Profit erzielen wollen, ohne dabei stets mit einem Bein im Knast zu stehen, sollte doch eigentlich vor allem ein Taxi- und Mietwagenverband vielmehr jede Initiative der Bundesregierung unterstützen oder sogar forcieren, die hier eindeutigere und vollständigere Dokumentationspflichten einfordert. rw TAXI 1. QUARTAL 2022 19

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